Was der Streit um die Muhammad-Karikaturen sonst noch verrät
„Jeder
hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu
äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein
zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten.“ So will
es das Grundgesetz, und so wollen wir es alle.
Um seine
Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu
verbreiten, braucht es gar nicht viel. Im Prinzip genügt als Raum
und Rahmen ein Stammtisch, um den man zusammenkommen kann –
schließlich verfügt ja dasselbe Grundgesetz, dass alle
Deutschen das Recht haben, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich
und ohne Waffen zu versammeln – und schon kann es losgehen.
Anspruchsvoller
kommt hingegen der zweite Teil des eingangs zitierten
Grundgesetzartikels daher. Es bedarf keiner hellseherischen
Fähigkeiten, um vorherzusagen, dass die grundgesetzlich
garantierte Informationsfreiheit, wo man sie denn in Anspruch nehmen
will, ziemlich schnell in Arbeit ausarten kann. Zwar stellt es eine oft
unerlässliche Voraussetzung dar, sich aus allgemein
zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten, um sich
überhaupt erst einmal eine Meinung bilden zu können, die man
hernach in Wort, Schrift und Bild frei äußern und verbreiten
kann. Die Versuchung ist jedoch groß, sich diese Mühe zu
ersparen und lieber gleich den direkten Weg zum Stammtisch
einzuschlagen, wo es zwar hoch her-, gleichwohl aber viel
gemütlicher zugeht.
Und so
kommt es, dass auch die Debatte um die Muhammad-Karikaturen sich
weithin in dürren Worten zusammenfassen lässt und die
gegenseitigen Vorwürfe sich durch eine Klarheit auszeichnen, die
allenfalls durch ihre Schlichtheit übertroffen wird. Dabei gingen
der Eskalation des Konfliktes seit Ende Januar 2006 Vorgänge voraus, die es ermöglicht hätten, das Problem erheblich differenzierter zu betrachten:
•
Einige der Karikaturen waren bereits im Oktober 2005, mitten im
Ramadan, in der ägyptischen Zeitung Al-Fagr abgedruckt worden,
ohne dass dies irgendjemanden gestört hätte. Weder steht es
also ganz so schlimm wie im Westen allgemein behauptet um die
Pressefreiheit in der islamischen Welt, noch ist der Schluss
aufseiten vieler Muslime absolut zwingend, der Abdruck könne nur
als Beleidigung verstanden werden.
• Die
Zeitung Jyllands-Posten, in welcher die Muhammad-Karikaturen erschienen
waren, hatte bereits 2003 Jesus-Karikaturen angeboten bekommen, die
nicht gedruckt wurden, weil die Redaktion einen Aufschrei der
Entrüstung befürchtete. Die Speerspitze der Pressefreiheit,
als die sie sich hat feiern lassen, ist die Zeitung also nicht.
•
Dänemarks Muslime sowie Diplomaten islamischer Länder hatten
monatelang darum bemüht, bei Jyllands-Posten und bei der
dänischen Regierung Gehör für ihre Gefühlslage zu
bekommen und wurden von ihren Adressaten weitgehend ignoriert. Der
Ausbruch kam also nicht aus heiterem Himmel.
• Die
Gewalt, die in Palästina und im Libanon losbrach, ging
zunächst gar nicht von Islamisten aus, sondern von der soeben in
den Wahlen unterlegenen Fatah. Die Urheber trieben also eigentlich gar
kein religiöses, sondern ein rein politisches Spiel.
• In
europäischen Demokratien mit ihrer Gewaltenteilung sind die
Regierungen ebenso wenig für die Verfolgung von Straftaten
zuständig wie Unternehmen für die Straftaten anderer
Unternehmen verantwortlich sind. Die Muslime wären also in einer
freiheitlichen Gesellschaft wie der dänischen besser beraten
gewesen, den öffentlichen Diskurs zu suchen.
Die Monate
zwischen der Veröffentlichung der Karikaturen und den
gewalttätigen Protesten waren also voller Ereignisse und
Missverständnisse.
Gleichwohl
reduziert sich die öffentliche Wahrnehmung in der Regel auf zwei
Sachverhalte. Zum einen: Jyllands-Posten hat ein paar Karikaturen
veröffentlicht und wird darob von vielen Muslimen der Blasphemie
bezichtigt. Zum anderen: Die Muslime wiederum scheinen die
Pressefreiheit im Namen ihrer totalitären Religions-Ideologie
bekämpfen zu wollen.
Aber geht
es wirklich zentral um all dies? Oder stehen die Begriffe, welche die
Debatte bestimmen, eigentlich für etwas ganz Anderes? Wenn ja,
wofür?
Werfen wir
zunächst einen Blick auf die Verfechter der Pressefreiheit. Sabine
Kebir hat dazu in einem Kommentar bemerkt: „Ich dachte immer, der
Grad von Pressefreiheit misst sich an der ungestraften
Möglichkeit, vor allem die eigenen Herrscher zu kritisieren und zu
karikieren. Den vermeintlichen Feind zu reizen und zu verhöhnen,
war und ist schließlich auch in Diktaturen erlaubt, oft sogar
ausdrücklich erwünscht.“ Das bringt eines der Probleme
sehr treffend auf den Punkt, und wir finden uns vor der Frage wieder,
was die ganze Affäre denn überhaupt noch mit Pressefreiheit
zu tun hat. Und es sieht – auch angesichts der nicht gedruckten
Jesus-Karikaturen sowie der rechtspopulistischen Richtung, für die
Jyllands-Posten insgesamt steht – in der Tat nicht gerade danach
aus, als habe die Zeitung recht eigentlich eine Lanze für die
Meinungs- und Pressefreiheit brechen wollen. Im Gegenteil: Dass hier
gezielt ein Eklat provoziert werden sollte, wird auch hierzulande immer
mehr zu einer doch wenigstens diskutierbaren Erkenntnis - nachdem wir
freilich fast alle erst einmal in die von Jyllands-Posten aufgestellte
Falle getappt sind.
Gleichwohl:
Die öffentliche Debatte ist bei uns weiterhin nicht recht
über die beiden genannten Sachverhalte hinausgekommen. Vor allem
monströse Gewaltexzesse als direkte Antwort auf ein paar dem
Anschein nach relativ harmlose Bildchen - das ist es, was im
kollektiven Gedächtnis haften bleibt.
Die
viermonatige kognitive Lücke zwischen Publikation und
gewalttätiger Reaktion lässt sich aber nicht damit
entschuldigen, man habe nun einmal nicht die Möglichkeit, sich aus
dänischen und arabischen Medien ein detaillierteres Bild zu
machen. Schließlich seien für Aufklärung die Medien
zuständig. Das ist zwar zugegebenermaßen nicht ganz
unrichtig. Es muss aber niemanden davon abhalten, ob des klar zutage
liegenden Vorhandenseins dieser langen Lücke ein wenig mehr
Vorsicht bei Meinungsbildung und -äußerung walten zu lassen
- und sich darüber hinaus die grundsätzliche Frage zu
stellen, ob man wirklich erst dann ein freier Mensch ist, wenn man
allen anderen gehörig auf die Füße getreten ist, und ob
es tatsächlich als Ausweis von Freiheit gelten kann, wenn man sich
so sehr in der Mitte des eigenen Weltbildes verschanzt, dass der Blick
für die Belange und Empfindlichkeiten anderer verloren geht. Denn
dass der Abdruck der Karikaturen bei vielen Muslimen Indignation
hervorgerufen hat und als Missbrauch von Freiheit empfunden wird, kann
doch wohl niemandem entgangen sein. Und gerade die sonst so sehr um ein
wahrnehmbares Profil bemühte Leitung der Evangelischen Kirche in
Deutschland hat die einzigartige Gelegenheit verpasst, einen
reformatorischen Freiheitsbegriff mit dialektischem Tiefgang ("Ein
Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem
untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und
jedermann Untertan") zu öffentlicher Geltung zu bringen, der dem
Konflikt viel von seiner Schärfe hätte nehmen können.
Dem
Reichsverband der Dänischen Industrie gebührt der Dank
dafür, in der Debatte als erste Partei daran erinnert zu haben,
dass Freiheit immer auch Verantwortung mit einschließt, und zwar
Ende Januar in einem offenen Brief an Jyllands-Posten - was der
Chefredakteur postwendend in einem Leitartikel vom 3.2. als
„Ausverkauf von Prinzipien“ bezeichnete. Welche Prinzipien
das nun aber sind, was Freiheit denn eigentlich sei, was genau jenes
Gut sei, welches da gegen Gewaltexzesse von muslimischer Seite
verteidigt werden soll, und wozu es befähigt, erfahren wir aus der
Replik der Zeitung leider nicht.
Und das
ist ja noch nicht einmal das Unerfreulichste. In der Debatte dauert es
nämlich selten lange, bis auch all die anderen Vorwürfe an
die Adresse des Islams ins Spiel gebracht werden: Terrorismus,
Ehrenmorde, Scharia... Eigentlich müsste sich doch über
Pressefreiheit auch losgelöst von all diesen anderen
Vorwürfen diskutieren lassen, zumal ja die Gewalt im Nahen Osten,
wie schon gesagt, anfangs gerade nicht von Islamisten ausging. Warum
ist diese Differenzierung hier kaum möglich? Das Problem mit der
Pressefreiheit scheint sich eben nahtlos in das Islambild zu
fügen, das sich in den übrigen Vorwürfen artikuliert.
Aber auch die tragen in der gängigen Verallgemeinerung Züge
von Ressentiments.
In dieser
Debatte geht es also bei näherer Betrachtung nur sehr
vordergründig um die Pressefreiheit. Wenn aber nicht sie das
eigentliche Thema ist, was dann?
Der
Realitätsbezug der Vorwürfe, mit denen bei uns der Islam
konfrontiert wird, ist ja wahrhaftig nicht zu leugnen. Natürlich
gibt es da Terroristen, Ehrenmörder und noch etliche andere. Aber
in der gängigen Verallgemeinerung sind die Beschuldigungen
eindeutig überzogen. In ihnen artikulieren sich in erster Linie
Angst und Abneigung gegenüber dem Islam als solchem.
Angst ist
immer zunächst einmal diffus und irrational. Um sie zu begreifen
und zu bewältigen, reden wir über sie und versuchen dabei
auch, ihr einen Namen zu geben. Begriffe wie Terrorismus und Scharia
bieten sich dabei wie von selbst an. Sie haben, wie gesagt, einen
unabweisbaren Bezug zur Realität. Außerdem identifizieren
sie diejenigen, welche die Schuld an der Bedrohung tragen, und
ermöglichen die Auseinandersetzung mit ihnen – wobei aber
häufig die Art dieser Auseinandersetzung mit einer klaren Trennung
zwischen Guten und Bösen (letztere sind immer die anderen)
einhergeht und so eher einer Flucht nach vorn gleichkommt als einer
offenen und ehrlichen Klärung der Angstursachen, die ja auch vor
einer kritischen Selbstbetrachtung nicht zurückweichen
dürfte. Und das, obwohl Angst ja eigentlich dazu da ist, auf in der eigenen Person ausgetragene Konflikte aufmerksam zu machen, um sie verarbeiten zu können.
Die
jüngste Debatte hat nun all diesen etablierten
Verbalisierungsformen der Angst vor dem Islam eine weitere
hinzugefügt: die Pressefreiheit bzw. deren Fehlen. Auch hier ein
realer Bezug und eine irreale Verallgemeinerung, die es uns allen
ermöglicht, uns ebenso kollektiv als Opfer zu fühlen wie die
anderen kollektiv als Bedrohung zu definieren. Wem hilft das? Uns
jedenfalls nicht.
Und wie
sieht es auf der anderen Seite aus, bei denjenigen, die sich nicht mit
verbalem Protest begnügen, sondern zu Gewalt greifen? Leider
verstehe ich vom Islam viel zu wenig, um etwas dazu sagen zu
können, wie das Verbrennen von Fahnen, Anzünden von
Botschaften und schließlich auch noch die Ermordung von Christen
aus islamischer Sicht zu bewerten sind. Dass es sich dabei aber nicht
um angemessene, ja nicht einmal gerade noch hinnehmbare Reaktionen auf
Beleidigungen handelt, sondern schlicht und einfach um Verbrechen, die
noch dazu aus einer Stimmung heraus geschehen, die von Kreisen mit
handfesten politischen Interessen (z. B. der Fatah) erst geschürt
wurde - so viel scheint klar zu sein, und ohne diesen Konsens ist jedes
weitere Gespräch zwecklos.
Wie gesagt - weiterer Urteile muss ich mich enthalten. Einige Fragen habe ich dennoch:
Wenn
manche Muslime nun blindwütig nicht mehr zwischen den eigentlichen
Verantwortlichen und deren vermeintlichen Landsleuten oder
Glaubensgeschwistern unterscheiden, wird man ernsthaft fragen
müssen, ob diese Leute die Botschaft ihres Propheten auch nur
ansatzweise verstanden haben. Hatte nicht Muhammad eine neue
Gemeinschaft begründet, welche die alten Stammesgrenzen auch mit
dem Ziel transzendierte, die überkommenen Ehrenstrukturen mit
ihren mörderischen Blutfehden zu überwinden? Gerade
diejenigen Verstöße gegen die Scharia, die islamische
Lebensordnung, für welche Koran und Sunna die härtesten
Körperstrafen zwingend vorzuschreiben scheinen, werden nicht mehr,
wie z.T. noch in der alten mekkanischen Gesellschaft, als
Verstöße gegen die Ehre anderer gewertet, sondern als solche
gegen Gottesrecht. Und was dieses betrifft, so wird im Koran immer
wieder betont, dass die Sünder sich eigentlich nur selbst schaden,
denn Gott ist dermaßen souverän, dass Ehrenkränkungen
ihn eigentlich gar nicht treffen können. Und auf wessen Seite Gott
steht, wie können dem Straftaten anderer noch etwas anhaben?
Dies ist
ein Selbstbewusstsein, das schon Paulus umgetrieben hat, das also uns
als Christen bestens vertraut ist. An Stellen wie dieser können
wir den Islam am besten verstehen. Und es ist genau diese
göttliche Souveränität, die uns dort, wo das Leben
gelingt, in Form heiterer Gelassenheit mitgeteilt wird, welche
diejenigen anscheinend vermissen lassen, die nun meinen, der von ihnen
empfundenen Beleidigung mit Gewalt begegnen zu dürfen, ja zu
müssen. Sie vermitteln ein Bild vom Islam, in dem die Umma auch
nur wieder als ein zwar die Stämme übergreifendes, nach
außen gleichwohl unverändert einem durch nichts infrage zu
stellenden Tribalismus mit seinem Ehrbegriff verhaftetes Ganzes
erscheint. Right or wrong - my Umma?
Die
Arroganz, mit welcher der Westen der islamischen Welt oft begegnet,
muss zur Rechtfertigung für unterschiedslose Gewalt herhalten -
aber macht nicht gerade der Koran den Gläubigen im Namen des
Rechts und der von Gott verliehenen Würde des Einzelnen die
Unterscheidung zwischen Schuldigen und Unschuldigen und damit ein um
Nüchternheit und Klarheit bemühtes Ansehen der Person zur
Pflicht? Und wie ist eigentlich der im Islam so zentrale Glaube an den
Tag des Gerichtes und und somit an eine höhere und eigentliche
Form der Gerechtigkeit, die Gott am Ende höchstselbst den Seinen
widerfahren lassen wird, mit dem Versuch zu vereinbaren, dieses Gericht
antizipatorisch in die eigenen Hände zu nehmen?
Nein, in
diesem Konflikt hat kaum jemand sich in irgendeiner Weise mit Ruhm
bekleckert. Wieder einmal entwirft man Bilder voneinander, die den
anderen kaum Möglichkeiten lassen, sich darin wiederzuerkennen.
Bewusste Verzeichnungen sind das in den seltensten Fällen. Die
Wahrheit ist schlimmer: Da fallen Menschen übereinander her, die
einander zwar nie in die Augen gesehen haben, die aber gleichwohl in
einer zwar anscheinend, aber doch nur scheinbar immer kleiner und
übersichtlicher werdenden Welt der überall präsenten
Massenmedien alles übereinander zu wissen wähnen. Wenn
also der Karikaturenstreit eines lehrt, so ist es dies: An der
direkten, persönlichen Begegnung der Menschen aus diesen einander
nach wie vor so fremden Welten führt kein Weg vorbei. Immerhin -
wer die Mühe nicht scheut, wird womöglich auch durch manch
positive Überraschung bereichert.