Das Kopftuchgesetz und die Kirchen
In
diesem
Beitrag geht es weder um die Bewertung des Kopftuches und
ähnlicher Kopfbedeckungen, noch um ihre Bedeutung für
muslimische Identität. Auch nicht um die Interpretationen
muslimischer Quellen und Traditionen, die in der Debatte begegnen, oder
um die Botschaft, die sie für Muslime und Nichtmuslime
transportieren. Es geht überhaupt nicht um das Für
und Wider,
um Risiken und Chancen. Sondern um einen Aspekt, der in der Diskussion
über das Kopftuch bisher wenig Beachtung gefunden hat:
Betrifft
all das eigentlich auch die Kirchen?
Die
nordrhein-westfälische Schulgesetznovelle
Der
Ausgangspunkt des Konflikts ist bekannt: Die muslimische Lehrerin
Fereshta Ludin war nicht in den Schuldienst des Landes
Baden-Württemberg übernommen worden. Sie bestand
darauf, im
Unterricht ein Kopftuch zu tragen, und das galt der
zuständigen
Schulbehörde als Beleg für eine mangelnde
persönliche
Eignung für den Lehrerberuf. Der Fall beschäftigte
zuletzt
das Bundesverfassungsgericht, das am 3.6.2003 entschied, dass in
Baden-Württemberg für ein Verbot, im Unterricht ein
Kopftuch
zu tragen, keine hinreichende gesetzliche Grundlage bestehe. Das
Gericht überlässt es den Ländern, ggf. eine
solche
Grundlage zu schaffen.
Seither
haben daraufhin mehrere Bundesländer Gesetze auf den Weg
gebracht
(in der Regel in Form von Änderungen der jeweiligen
Schulgesetze),
die zum Ziel haben, muslimischen Lehrerinnen das Tragen von
Kopftüchern und ähnlichen Kopfbedeckungen im
Schulunterricht
zu untersagen. Die entsprechenden Gesetzesentwürfe wurden, wie
die
vielen Übereinstimmungen in den Formulierungen zeigen,
offensichtlich von einer länderübergreifenden
Arbeitsgruppe
der Unionsparteien vorbereitet. Auch Nordrhein-Westfalen ist
jüngst dem Beispiel von Baden-Württemberg,
Niedersachsen und
weiteren Ländern gefolgt. Ziel ist es ausdrücklich,
eine
gesetzliche Grundlage für ein Verbot für
Lehrkräfte zu
schaffen, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen. Es ist also
gewiss keine unzulässige oder gar polemische Vereinfachung,
hier
von einem „Kopftuchgesetz“ zu sprechen.
Ein
solches Vorhaben ist nicht einfach umzusetzen. Schließlich
garantiert das Grundgesetz Religionsfreiheit und fordert die
Gleichbehandlung auch der Religionen. Um Restriktionen nur gegen eine
bestimmte Religionsgemeinschaft gesetzlich festzulegen, muss man schon
einen sehr exakten chirurgischen Schnitt führen. Nur - Wie
macht
man das, ohne dabei mit dem Grundgesetz zu kollidieren?
Die
nordrhein-westfälische Schulgesetznovelle setzt mit ihrem
Lösungsweg bei der Landesverfassung an. Das
Bundesverfassungsgericht hatte nämlich den Ländern
zugestanden, „zu verschiedenen Regelungen kommen zu
können,
weil bei dem zu findenden Mittelweg auch Schultraditionen, die
konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung und ihre mehr
oder
weniger starke religiöse Verwurzelung berücksichtigt
werden
dürfen.“
Das
neue Schulgesetz greift diesen Passus auf und begründet das
Kopftuchverbot in zwei Schritten:
1. Untersagt sind politische, religiöse oder weltanschauliche Bekundungen, welche die Neutralität des Landes gefährden oder stören oder den Eindruck erwecken können, die Lehrkraft trete gegen Menschenwürde, Gleichberechtigung, Freiheitsgrundrechte oder freiheitliche demokratische Grundordnung auf. So verschafft man sich die Möglichkeit eines Kopftuchverbotes, indem das Kopftuch als mehrdeutiges Symbol und nicht immer freiwillig getragenes Kleidungsstück als potentiell Neutralität und Schulfrieden gefährdend eingestuft wird.
Im
Prinzip
ließe sich ähnliches aber auch gegen christliche
Symbole wie z.B.
ein Ordenshabit vorbringen. Und deshalb folgt an dieser
Stelle der zweite Schritt:
2.
Die
„Darstellung christlicher und abendländischer
Bildungs- und
Kulturwerte oder Traditionen“ (mithin das Tragen z.B. eines
Ordenshabits) widerspricht per se nicht diesem Verhaltensgebot, denn
deren Vermittlung gehört nach Art. 7 und 12 der
Landesverfassung
ausdrücklich zum Erziehungsauftrag der Schulen. Hierdurch wird
für christliche und abendländische (was immer das
sein mag)
Symbole eine Ausnahme definiert, die es ermöglicht, Ordens-
und
Priesterbekleidung usw. auch weiterhin zu verwenden.
Eigentlich wäre es an dieser Stelle lohnend und auch wichtig, einen Augenblick innezuhalten und der Frage nachzugehen, ob Christentum sich auf bestimmte Bildungs- und Kulturwerte reduzieren lässt, ob hier der zivile Bereich von Bildung und Kultur (und nicht etwa genuin theologische und durch den Glauben selbst motivierte Belange wie etwa die ethisch motivierte kirchliche Einrede bei unterschiedlichsten politischen Themen) als die spezifische Sphäre gedacht sind, in der das Verhältnis zwischen Kirche und Staat Gestalt gewinnt bzw. in welche der Staat dieses Verhältnis verweist. Im Rahmen dieser Überlegungen mag ich dieses Problem allerdings nicht weiter thematisieren.
Wie
aber dem auch immer sei: Die
Landesregierung setzt in ihrer Interpretation der Verfassung
voraus, mit der expliziten Verankerung christlicher Bildungs- und
Kulturwerte in der Landesverfassung sei zugleich
eine
herausgehobene
Position der Kirche gegenüber den Werten anderer
Religionsgemeinschaft
intendiert gewesen. Das führt allerdings zu der Frage, welchen
Bedarf für die Formulierung eines solchen Privilegs
für das
Christentum die Verfassungsväter damals gesehen haben sollten.
Welche „Konkurrenzreligionen“ könnte man
hier im Jahr
1950 im Blick gehabt haben? Juden gab es damals in Deutschland
bekanntlich kaum noch. Oder sollte man damals bereits gewusst haben,
dass – etwas salopp ausgedrückt - 20 Jahre
später
gewaltige Horden türkischer Gastarbeiter in Köln bei
Ford am
Band stehen und in drei Schichten täglich für den
Untergang
des christlichen Abendlandes malochen würden? All das ist
wenig
wahrscheinlich.
Beim
näheren Blick auf die damaligen Zeitumstände
erscheint es
also keineswegs so selbstverständlich, wie die Landesregierung
es
glauben machen will, dass bei Inkrafttreten der Landesverfassung
bereits beabsichtigt war, dem Christentum gegenüber anderen
Religionen eine Sonderstellung einzuräumen. Die Frage ist neu
zu
stellen, was man denn mit einem solchen Verfassungsartikel sonst noch
bezweckt haben könnte.
Dazu
bietet es sich an, einmal einen Blick auf Äußerungen
einiger
führender Repräsentanten der
nordrhein-westfälischen CDU
aus jenen Jahren zu werfen. Ein Interesse an engen Beziehungen zwischen
Kirchen und Land ist in den fraglichen Jahren am ehesten in diesem Teil
des politischen Spektrums zu
vermuten. Es sind vor allem zwei Persönlichkeiten, die sich
für
einen näheren Blick besonders anbieten: Konrad Adenauer und
Gustav
Heinemann.
Politische
Diakonie als Verfassungsauftrag
Konrad
Adenauer
Am
24.
März 1946 hielt Konrad Adenauer an der Kölner
Universität eine programmatische Rede unter dem Titel
„Freiheitliche Demokratie auf christlicher
Grundlage“. Auf
diese Rede kommt Ministerpräsident Rüttgers immer
wieder gern
zurück, und nach eigenem Bekunden übt sie
„immer einen
großen Zauber“ auf ihn aus und ist für ihn
„eines der schönsten Stücke der Geschichte
unserer
CDU“.
Adenauer attestiert dem deutschen Volk mit Blick auf den Nationalsozialismus, es habe "den Staat zum Götzen gemacht", dem es "die Einzelperson, ihre Würde und ihren Wert... geopfert" habe. Diese Auffassung vom Vorrang des Staates vor dem Individuum widerspreche dem christlichen Naturrecht, das wiederherzustellen die CDU angetreten sei. Demokratie sei mehr als eine parlamentarische Regierungsform. Sie sei eine Weltanschauung, die in der Auffassung von der durch das Christentum entwickelten Würde des Einzelnen wurzele.
Es
war ein
elendes Bild, das die völlig zerbombte Stadt Köln
damals, gut
zehn Monate nach Kriegsende, geboten hat! Und so schließt
Adenauer denn auch mit einem aufmunternden Appell an die
Bürgerinnen und Bürgern von Köln:
„Verlieren Sie
den Mut nicht. Ich weiß, wie es bei Ihnen aussieht, und
trotzdem
sage ich, verlieren Sie den Mut nicht: Köln wird
wiedererstehen,
wenn die gesamte Bürgerschaft, alle Stände, alle
Schichten
bei diesem Werk zusammenarbeiten. Wenn Gott es will, können
Sie in
den nächsten zwei Jahrzehnten alle die Pläne
ausführen,
die wir vor 1933 entwickelt haben. (...) Sie können die
Menschen
aus der Steinwüste herausführen, sie siedeln lassen
am
äußeren Grüngürtel in Gottes
freier Natur. Sie
können ihnen wiedergeben die Verbundenheit mit Erde und
Himmel.“
Adenauer
lässt mithin keinen Zweifel daran, wie Stadt und Land
ins Elend geraten geraten,
und wie sie wieder herausfinden: Der Nationalsozialismus ist es
gewesen, der Zerstörung und individuelles wie kollektives Leid
verursacht hat. Wie es nun nach Adenauers Willen weitergehen soll,
fasst Rüttgers treffend zusammen: „Die Verbundenheit
des
Menschen mit Erde und Himmel wiederherstellen, das heißt: den
Menschen wieder dahin zurückzubringen, wo er nach christlichem
Selbst- und Weltverständnis sein muss, von wo er sich aber
während der Nazi-Barbarei zu seinem Unheil entfernt hat. (...)
Mit
dieser Position formulierte Adenauer 1946 einen dezidierten
Gegenentwurf zu den Weltanschauungen, die Deutschland ins Elend
geführt hatten.“
Adenauers
Gegenentwurf liest sich so: „Der Fundamentalsatz des
Programms
der CDU, der Satz, von dem alle Forderungen unseres Programms ausgehen,
ist ein Kerngedanke der christlichen Ethik: die menschliche Person hat
eine einzigartige Würde, und der Wert jedes einzelnen Menschen
ist
unersetzlich. Aus diesem Satz ergibt sich eine Staats-, Wirtschafts-
und Kulturauffassung, die neu ist gegenüber der in Deutschland
seit langem üblichen. (...) Wir nennen uns christliche
Demokraten,
weil wir der tiefen Überzeugung sind, dass nur eine
Demokratie,
die in der christlich-abendländischen Weltanschauung (...)
wurzelt, Deutschlands Wiederaufstieg herbeiführen
kann.“
Es
sind
also die über Jahrhunderte bewährten, aber zwischen
1933 und
1945 korrumpierten Werte, auf die es sich nunmehr
zurückzubesinnen
lohnt, damit das Land sich wieder erholt. Die CDU ist angetreten,
diesen Werten zu politischem Gewicht zu verhelfen. Der letzte der eben
zitierten Sätze beschreibt dabei, wie die einzelnen Ebenen
aufeinander aufbauen: Die christlich-abendländische
Weltanschauung
bildet die Basis für die Demokratie als daraus resultierende
politische Lebensform. Auf der Demokratie wiederum basiert der
praktische Vollzug des politischen Lebens. Die christliche
Weltanschauung ist hier also nicht um ihrer selbst willen da, sondern
hat eine stützende (und damit dienende) Funktion
gegenüber
der Demokratie und dem zivilen Leben.
Wie
Rüttgers sehr zu Recht anmerkt, war Deutschland damals
keineswegs
ein Land mit kollektiver, intakter christlich-abendländischer
Weltanschauung. Mit anderen Worten: Es konnte in dieser Phase nicht
darum gehen, christliche Werte mit den Mitteln der Gesetzgebung zu
konservieren und ihrer Erosion vorzubeugen. Im Gegenteil - erst einmal
galt es, überhaupt erst einmal wieder eine Gesellschaft zu
etablieren, in der solche Werte eine Chance hätten, und sich
dabei
vor allem der tatkräftigen Hilfe dienstbereiter Kirchen zu
versichern.
Das
Geschichtsbild, das die Landesregierung in ihrer Schulgesetznovelle
zugrunde legt (Privilegierung des Christentums gegenüber
anderen
Religionen), lässt sich somit an Adenauers damaligen
Äußerungen jedenfalls nicht verifizieren. Wie
verhält
es sich bei Gustav Heinemann?
Gustav
Heinemann
Heinemann
hatte während der Zeit des Nationalsozialismus für
die
Bekennende Kirche gewirkt und bereits 1934 die Barmer Theologische
Erklärung mit verabschiedet. Deren zweite These hält
die
politische Weltverantwortung der Christen fest und widerspricht der
Ansicht, es könne für Christen voneinander getrennte
Bereiche
des Gehorsams geben, etwa dass man in der Religion Gott, in der Politik
dem nationalsozialistischen Regime zu folgen habe. Auch als
Staatsbürger sind Christen nicht aus ihrer Verantwortung vor
Gott
entlassen.
Weiterhin
hatte Heinemann im Herbst 1945 das Stuttgarter Schuldbekenntnis mit
erarbeitet, das in seiner Quintessenz besagt, dass Hitler und Auschwitz
nicht möglich gewesen wären, wenn die Christen
bessere
Christen gewesen wären. Über diese Erklärung
schreibt
Heinemann 1950: „Diese Erklärung sollte die
Grundlage sowohl
für die Neuordnung unserer Kirchen nach der
nationalsozialistischen Zerstörung und eine neue
ökumenische
Gemeinschaft als auch eine Hilfe für die Besinnung unseres
Volkes
über seinen Weg in den vorausgegangenen 12 Jahren und damit
eine
Grundlage für eine neue nationale Gemeinschaft sein. Unser
Volk
hat uns diese Erklärung nicht abgenommen. (...) Unsere Kirchen
zeigten neben viel Aufgeschlossenheit ebenfalls manche Ablehnung oder
Verständnislosigkeit. So wurde uns das in Hybris und
Katastrophe,
in Gericht und Gnade Erlebte aufs Ganze gesehen nicht ein Anlass zur
Umkehr und neuer Besinnung. Deshalb stehen wir im Grunde genommen auch
heute noch zentral vor der Aufgabe, unseren Weg durch die vergangenen
Jahre und unsere Lage heute erst einmal im Lichte des Wortes Gottes zu
sehen und zu begreifen, ehe wir weitergehen können.“
Heinemanns
Wunsch war es also gewesen, dass die Christen in Deutschland von der
Schuld her, die sie auf sich geladen hatten, ein neues und
demütiges Selbstverständnis gewinnen sollten
–
schließlich steht der Mensch immer nur als Schuldiger und
Erlöster vor Gott: „Aus der Verlorenheit
führt Jesus
Christus uns schon hier und heute in die Geborgenheit seiner
göttlichen Allmacht. Wo wir aufhören, herrenlos zu
sein,
hören wir auch auf, schutzlos zu sein.“
Aufhören,
herrenlos zu sein – das heißt vor allem
aufhören,
selbst Herr sein zu wollen. Das hat Heinemann der CDU sehr deutlich mit
auf den Weg gegeben, als er sie 1952 verließ: „Als
die
Christlich-Demokratische Union 1945 nach dem Zusammenbruch des
Hitler-Wahnes entstand, war ihr Anliegen, auch und gerade im
politischen Felde eine Umkehr zu Gott und eine Hinkehr zum
Nächsten zu bereiten. (...) Nichts lag dieser CDU zu Beginn
ihrer
Arbeit ferner, als wieder eine „christliche Front“
entstehen zu lassen oder nur eine Einheitsmeinung als die allein
christliche gelten zu lassen. (...) Christentum kann zu einer sehr
bösen Förderung antichristlicher Kräfte bis
hin zum
Bolschewismus entarten und steht überall dort in solcher
Gefahr,
wo es sich zum Klasseninstrument oder Vorspann für politische
Ziele missbrauchen lässt. Nicht die Parole: Christentum und
abendländische Kultur, sondern Umkehr zu Gott und Hinkehr zum
Nächsten in der Kraft des Todes und der Auferstehung Jesu
Christi
ist das, was unserem Volk und inmitten unseres Volkes vor allem uns
Christen selbst Not tut. Die christliche Politik aber, soweit sie sich
in der CDU darstellt, ist auf dem Wege, (...) in der Bundesrepublik
wieder in eine Bürger-Blockbildung zurückzufallen,
die nur
zum Unheil werden kann.“
In ähnlicher Weise hat Heinemann sich um 1950 herum in seinen kirchlichen Funktionen als Präses der Synode der EKD und Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages zu Wort gemeldet. Immer wieder rief er die Christen zur Mitverantwortung für das politische Leben und zu dessen Mitgestaltung auf: „Die Politik ist in nicht größerem Maße ein Bereich der Dämonen, als es etwa Geschäft oder Ehe sind. In allen Bereichen dürfen wir uns der Vergebung in Jesus Christus getrösten. Darum gibt es keine Ausrede gegenüber dem Ruf zur Verantwortung und Betätigung auch im öffentlichen Leben.“ Klare Worte findet Heinemann auch auf einer Veranstaltung zur Bundestagswahl 1949: "Uns ist keine Obrigkeit mehr gesetzt. Wir haben sie selber zu bilden. Aber auch die demokratische Obrigkeit, die wir selber zu bilden haben, muß in Gottes Ordnung stehen. Deshalb ist es tatsächlich an der Zeit, daß gerade und endlich auch der evangelische Bürger, der evangelische Mann und die evangelische Frau, aus aller obrigkeitsseligen Vergangenheit zur politischen Aktivität erwache. Nur zu lange sind wir gewohnt gewesen, daß Thron und Altar durch hohe Landesherren versehen wurden. Wollen wir doch endlich davon Kenntnis nehmen, daß die Zeit der Staatskirche seit 1945 ebenso zu Ende ist wie das Gottesgnadentum der weltlichen Obrigkeit. Und nun liegt es an uns, was werden wird!"
Der freie
Christenmensch zeichnet sich durch seine unmittelbare Beziehung zu Gott
aus. Das gilt für sämtliche Lebensbereiche und besagt
für das politische Leben, dass zwischen dem Christen und Gott
nicht die sakrale Hypostase eines vermittelnden Staates mit quasi
priesterlicher Würde steht. Eben daraus folgt auch, dass Christen
- anders als man gerade in der evangelischen Kirche unter
Rückbezug auf Römer 13 immer wieder gemeint hatte - auch
politische Verantwortung zu übernehmen haben. Durch
die
Verweigerung dieses Engagements ist großes Unglück
über
Deutschland und die Welt gekommen, und mit diesen
Versäumnissen
muss es nun ein Ende haben. Wenn Luther den freien Christenmenschen als
dienstbaren Knecht aller Dinge und jedermann untertan bezeichnet, so
gilt dies auch im politischen Leben. Dieses hat der Christ nicht
irgendeiner Obrigkeit zu überlassen - er selbst ist die Obrigkeit,
die er um der anderen willen verantwortlich zu gestalten hat.
Und
nun?
Zwischen Adenauer und Heinemann werden aus heutiger Sicht fundamentale Unterschiede deutlich: Adenauer riet dazu, an die Zeit vor 1933 anzuknüpfen und sich zurückzubesinnen auf das, was damals von tragender Bedeutung für Staat und Gesellschaft war. Die Werte, auf denen die Demokratie gründet, haben ihre Wurzeln seiner Ansicht nach im Christentum. Ob auch andere Religionen derartige Werte entwickelt haben oder entwickeln können, bleibt Adenauers damaligem Horizont entsprechend noch völlig offen.
Heinemann
dagegen ist der Ansicht, dass es hinter den nationalistischen Wahn,
hinter Krieg und Schoah kein Zurück mehr gibt, dass nichts
sich
ungeschehen machen lässt. Heinemann geht es weniger als
Adenauer
um „christliche Bildungs- und Kulturwerte“ (bzw.
"Christentum und abendländische Kultur", wie er sich
ausdrückte), die aus
dem
Christentum gewonnen werden sollten, sondern er legt den Akzent darauf,
dass die Christen in Deutschland diese Werte überhaupt erst
wieder
einmal für sich entdecken müssten wie sie es im
Gefolge der
Aufklärung schon einmal taten. Deutlicher als bei Adenauer
hören
wir bei Heinemann heraus, das die Kirche, ebenso wie sie immer
zuallererst selbstkritisch zu sein hat und sich auch zum Staat in
kritischer Solidarität verhalten soll.
Bei
allen
Differenzen - beiden ist gemeinsam, dass sie auf der Grundlage des
christlichen Glaubens das Land wieder aufbauen und seine Zukunft
gestalten wollen. Beide haben also auf altbewährtes geistiges
Kapital zurückgegriffen, um die Menschen als Christen, die sie
trotz der umfassenden Entfremdung von den Grundlagen des Glaubens
mehrheitlich ja wenigstens nominell noch waren, auf die politische
Diakonie zu verpflichten. Dabei sind es nicht irgendwelche fremden
Religionen, gegen die es sich mithilfe des christlichen Glaubens
abzugrenzen gilt, sondern der Ungeist des Nationalsozialismus mit all
seinen verheerenden Auswirkungen, der überwunden werden muss.
Und
so
dürfte es damals auch bei der Festschreibung christlicher
Bildungs- und Kulturwerte in der Landesverfassung nicht um die
Etablierung einer „christlichen Front“, einer
christlichen
„Bürger-Blockbildung“ (wie Heinemann
eskritisierend
nannte) mit entsprechenden Sonderrechten für die angestammten Kirchen gegangen sein, sondern darum,
nach der Katastrophe des Nationalsozialismus und des 2. Weltkrieges
für den notwendigen Neuaufbau auch und vor allem die Kirchen
in
Dienst zu nehmen.
Art.
12
(6) der Verfassung ist also aus meiner Sicht weniger als Privileg denn
vielmehr als Anspruch an die Kirchen zu lesen. Eben deshalb ist nicht
einzusehen, weshalb die den Kirchen zugesprochenen Rechte und Pflichten
sich nicht ebenso gut auch auf andere Religionsgemeinschaften ausdehnen
lassen sollten, sobald diese so weit präsent sind, dass sie
als
mögliche politische Partner in den Blick kommen –
was eben
im Jahr 1950 im Gegensatz zu heute einfach noch nicht der Fall war.
Gesetze
können Dialog und Integration behindern, aber nicht ersetzen
Der
Rückgriff auf Adenauer und Heinemann zeigt vor allem eins:
Gegenüber dem, was damals gedacht, gesagt und als Gesetz
verabschiedet wurde, bedeutet es eine beträchtliche
Verschiebung,
wenn heute unter Berufung auf die genannten Verfassungsartikel den
Christen und Kirchen Rechte eingeräumt werden, die man
Muslimen
ausdrücklich nicht zugestehen mag. Mir scheint, dass dieses
ziemlich zweifelhafte Verfassungsverständnis dem ohnehin
stetig
wachsenden Misstrauen sowie dem Populismus, dem Muslime sich momentan
häufig ausgesetzt sehen, zusätzlichen
Nährboden
verschafft.
Ob
nun die
Vorwürfe, die man Muslimen macht, im einzelnen zutreffen oder
nicht - in dieser Situation stehen die Kirchen vor der Frage, ob sie
das
Recht haben und ob es ihnen bekommt, sich eine Privilegierung zu Eigen
zu machen, die derart gravierenden Problemen bei der
Verfassungsauslegung geschuldet ist. Die evangelischen Landeskirchen in
Nordrhein-Westfalen haben sich zur Sache geäußert
und halten
in einer „gemeinsamen Erklärung zur so genannten
Kopftuchfrage“, trotz ihrer Bedenken gegenüber dem
Kopftuch
als mehrdeutigem Symbol, grundsätzlich am Recht muslimischer
Lehrerinnen fest, eines zu tragen. Insofern kann ich mich der
Erklärung vorbehaltlos anschließen.
Begrüßen
würde ich es nun, wenn auf der anderen Seite ebenso deutlich
die
Gefahr benannt würde, dass man selbst durch das neue
Schulgesetz
für eine Maßnahme instrumentalisiert und damit
korrumpiert
werden könnte, die vermutlich eher Ressentiments bedient, als
dass
sie einen politischen Nutzen erbringt.
Die
Schwächen des Verfassungsbezugs im neuen Kopftuchgesetz zeigen
deutlich, dass es kaum möglich ist, Veränderungen an
einer
Stelle des gesellschaftlichen Gefüges vorzunehmen, ohne dass
sich
daraus Konsequenzen für die Gesellschaft als Ganze ergeben.
Ein
solches Unterfangen hätte wohl nur dann Aussicht auf Erfolg,
wenn
man die Muslime per definitionem und a priori nicht als Teil dieses
gesellschaftlichen Gefüges betrachtet oder doch zumindest
billigend in Kauf nimmt, sie an den gesellschaftlichen Rand zu
drängen - was kaum in der Absicht der Gesetzesnovelle liegen
dürfte.
Hinzu
kommt, dass die „christlichen Bildungs- und
Kulturwerte“
doch eigentlich der Überwindung nationalsozialistischen
Denkens
und Handelns dienen sollten und nichts darauf hindeutet, dass die
Verfassung hier der Mitgestaltung des politischen und sozialen Lebens
durch weitere Religionsgemeinschaften Grenzen setzen wollte. Oder ist
etwa die heutige Situation mit der damaligen vergleichbar? Sollte man
wirklich behaupten können, Land und Kirchen fänden
sich heute
angesichts des in Deutschland Fuß fassenden Islam vor
ähnlichen Gefährdungen wieder wie 1933?
Natürlich
bringen Gesetzesinitiativen dieser Art die Kirchen, gerade in einer
Zeit, in der sie in der Gesellschaft an Relevanz verlieren und umso mehr auf sichtbares Profil bedacht sind, in eine
scheinbar komfortable Situation. Dennoch glaube ich, dass diese Art
der Imagepflege durch den Gesetzgeber ihnen eher schadet. Es
könnte in der Öffentlichkeit wieder einmal der
Eindruck
entstehen, dass die Kirchen immer gerade dann die Nähe zur
Politik
suchen, wenn es ihnen nützt, ohne ihnen irgendeine
Verantwortung
abzuverlangen, wenn also gesellschaftlicher Einfluss billig zu haben
ist. Und mit Blick auf die Rolle, welche die Schulgesetznovelle, anders
als die Verfassung, den
Kirchen zuerkennt, ist dieser Eindruck
auch nicht eben leicht von der Hand zu weisen. Die Kirchen
können
das Christentum aber nicht vom Gesetzgeber als Normalreligion
dekretieren lassen. Sie müssen sich schon tunlichst selber
darum
bemühen, die Herzen der Menschen zu gewinnen.
Es ist gewiss so, dass das Kopftuch ein mehrdeutiges Symbol ist. Unter den Trägerinnen mögen auch solche sein, die damit eine Intention verbinden, die nicht mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung kompatibel ist. Um aber diesbezüglich Klarheit zu erlangen, ist die bloße Definitionsmacht der Legislative wenig zielführend. Ein differenziertes Bild und ggf. eine Besserung von Missständen bringt nur ein Dialog auf gleicher Augenhöhe. Und der ist nun wirklich das Letzte, wovon der Gesetzgeber die Kirchen durch Gewährung einer Position der Stärke entbinden könnte.